Gibt es kleine Übungen überhaupt?




Hier können Übungen ausgetauscht werden, die im Alltag durchführbar sind.

Gibt es kleine Übungen überhaupt?

Beitragvon venosta » Fr 12. Sep 2008, 21:57

Hallo zusammen im kleinen und erlauchten Kreise!

So, jetzt bin ich doch neugierig: Welche Übungen sind vorstellbar, mit denen man sich durch theatralisches Handeln im Alltag ein bisschen Realität konstruieren kann. Damit meine ich zunächst soetwas wie in der Schlange an der Supermarktkasse eine andere Rolle einnehmen, zB die des notorischen Nörglers. (Dabei ist das jetzt ein schlechtes beispiel, weil negativ.)

Ich weiß nicht, ob meine Gedanken da in die richtige Richtung gehen, aber ich meine so etwas, wo man im kleinen Rahmen allein eine Rolle einnimmt, die von der Ego-Identifizierten Rolle abweicht.

Gibt's da was? Vielleicht etwas, das schon mal probiert wurde?
venosta
 
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von Anzeige » Fr 12. Sep 2008, 21:57

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Re: Gibt es kleine Übungen überhaupt?

Beitragvon Hans Mack » Di 16. Sep 2008, 21:02

Hallo Venosta,

vorab folgendes: im Schauspielbereich ist es üblich dass man sich gegenseitig duzt, das erleichtert die Kommunikation. Ich hoffe das geht auch für das Forum hier OK.

Mir fällt auf diese Fragen zuerst eine kleine und leichte Übung ein, die sehr einfach ist und überall praktiziert werden kann, die jedoch am besten auf einer belebten Fußgängerzone wirkt, dort jedoch nicht gerade wenig Mut kostet, wenn man allein ist:

Einfach in einer dynamischen Bewegung spontan (A-tok) stehen bleiben und für eine oder zwei Minuten eine Statue spielen. Sozusagen die Zeit einfrieren indem man die Bewegung einfriert. (Aber einfach nur dastehen mit dem Blick dem Handy oder einem Plakat zugewandt ist damit natürlich nicht gemeint. Nicht jede Haltung ist passend. Eine angefangene Bewegung muss erkennbar sein, damit sich Spannung aufbaut.) Du signalisierst Deiner Umwelt damit zweierlei: Deine Lust zum spielen und den Ausstieg aus dem "Film" der abläuft. Du hältst sozusagen den "Film" an und steigst durch dieses Anhalten kurz aus dem ganzen ernst der Realität aus. Insofern ist diese Übung auch ein wenig rebellisch.

Alleine ist das eine echte Mutprobe.
Zu zweit oder zu mehreren ein prima Spaß - siehe Kunstaktion in New Yorks Central Station: http://de.youtube.com/watch?v=jwMj3PJDxuo


Eine einfache Übung an der Kasse des Supermarktes oder beim Verkaufsgespräch beim Bäcker wäre z. B. die Brötchen auf Englisch zu bestellen oder wortlos und pantomimisch zu bestellen. Auch Übungen, die dazu helfen unsere Peinlichkeitsgrenze zu verringern sind sinnvoll. Man könnte also durchaus mal im Baumarkt nach der Obstabteilung fragen oder bei Mc Donalds eine Pizza bestellen um den „inneren Polizisten“, der uns in der Gewohnheit festhält, zu desensibilisieren.

Man ist normalerweise von seiner eigenen Rolle gefangen und wir bewegen uns oft wie auf Schienen. Wenn man aus seinem gewohnten Verhalten ausbrechen will, kann es sinnvoll sein dies vorher vor dem Spiegel oder der Videokamera einzuüben. Es ist faszinierend das allein der Wille und etwas Planung reicht, um aus vielen Gewohnheiten und Begrenzungen auszusteigen.

Allerdings bewegen wir uns damit sozusagen im Bereich des "Unsichtbaren Theaters" ( http://de.wikipedia.org/wiki/Unsichtbares_Theater ) und es ist hier wichtig als Einzelperson keine allzu negativen Rollen einzunehmen oder zu provozieren, da jede unserer Handlungen für die nicht wissenden als Realität aufgefasst wird.
Wenn negative Rollen im "Unsichtbarem Theater" gespielt werden, ist es extrem wichtig blitzschnell und glaubhaft die Situation als Spielsituation aufzudecken, wenn es Ärger gibt. So wie dies z. B . bei den "Versteckte Kamera" TV Formaten praktiziert wird.

Da in der „normalen“ Realität nicht die Theaterregeln gelten, ist die Freiheit des Handelns also begrenzt.

Ein richtiges Realtheater im kleinen ist jedoch in einer privaten Wohnung schon mit 2 - 3 Leuten (und möglichst einer Videokamera) möglich, wenn sie die "Abmachung des Theaterspiels" und deren Regeln miteinander vereinbaren, allerdings müssen diese erst einmal genau bekannt sein.

Die faszinierndste Form des Realtheaters, die ich im Projekt Realtheater erreichen möchte, benötigt dazu noch den theoretischen Hintergrund des Radikalen Konstruktivismus: „Soziale Realität ist Relativ.“
Hier bestimmt das Ensemble selbst und nicht die Kausalität, was real und was unreal ist, was wahr und unwahr ist, was ernstes Spiel und was nicht ernstes Spiel ist. Mit einem schauspielerisch geübten Team kann durch kollektive Ernstnahme fast jede Phantasie bzw. Rolle realisiert werden und durch kollektives Lachen (Auslachen = das Gegenteil von Ernstnahme) kann diese Rolle wieder abgelegt und „entmachtet“ werden.
(Hierzu passt, das die meisten Schauspieler beim Theater oder am Filmset immer Lachen in dem Moment, wenn sie ihre Spiel-Rolle beendet haben und wieder in ihre normale Ego-Rolle zurückkehren.)
Sich der kollektiven Macht einer „kreativen Realitätsgestaltung“ oder „dynamischen Realitätsgestaltung“ bewusst zu werden, kann starke Auswirkungen auf die normale Realität haben und ich denke dass hier noch einiges genau besprochen werden muss, bevor dies in der Praxis getan wird.

PS: Vielleicht wenn 6,7 Milliarden Menschen einen kollektiven Lachkrampf bekämen über das kausale Ding, das wir „Die Geschichte“ nennen, dann wäre diese Art von Welt-Geschichte mit einem Schlag vorbei?
Hans Mack
 
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Re: Gibt es kleine Übungen überhaupt?

Beitragvon venosta » So 5. Okt 2008, 04:17

hallo hans!

danke für deine ausführliche antwort; ich gehe erstmal nur auf folgendes ein:

Hans Mack hat geschrieben:Wenn negative Rollen im "Unsichtbarem Theater" gespielt werden, ist es extrem wichtig blitzschnell und glaubhaft die Situation als Spielsituation aufzudecken, wenn es Ärger gibt. So wie dies z. B . bei den "Versteckte Kamera" TV Formaten praktiziert wird.


hierzu ist mir ein video eingefallen, das ich mal gesehen habe und prompt auch wieder gefunden habe - das stichwort "funny" war leider wichtig.
http://www.youtube.com/watch?v=91yaxW1T7-c

das ist leider ein negativbeispiel, bei dem die realität "unlustig" verändert wird und alles andere als funny ist. es zeigt nur, dass es funktioniert. interessant wäre es nun, das format auf etwas positives umzumünzen. allerdings gehen wir jetzt hier über die kleinen praxisübungen im alltag hinaus. vielleicht sollten wir kollektivübungen in einem neuen thread diskutieren.

ich werde auf die anderen aufgaben demnächst eingehen - nur so viel: ich finde sie sehr interessant!

viele grüße
venosta
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Re: Gibt es kleine Übungen überhaupt?

Beitragvon venosta » Mi 3. Dez 2008, 11:56

Hans Mack hat geschrieben:Ein richtiges Realtheater im kleinen ist jedoch in einer privaten Wohnung schon mit 2 - 3 Leuten (und möglichst einer Videokamera) möglich, wenn sie die "Abmachung des Theaterspiels" und deren Regeln miteinander vereinbaren, allerdings müssen diese erst einmal genau bekannt sein.


Hast Du hier schon Erfahrungen gesammelt? Welches sind Regeln, die man vereinbaren kann / sollte?


Eine einfache Übung an der Kasse des Supermarktes oder beim Verkaufsgespräch beim Bäcker wäre z. B. die Brötchen auf Englisch zu bestellen oder wortlos und pantomimisch zu bestellen. Auch Übungen, die dazu helfen unsere Peinlichkeitsgrenze zu verringern sind sinnvoll. Man könnte also durchaus mal im Baumarkt nach der Obstabteilung fragen oder bei Mc Donalds eine Pizza bestellen um den „inneren Polizisten“, der uns in der Gewohnheit festhält, zu desensibilisieren.


Genau soetwas meinte ich. Vielleicht könnten wir eine Liste an Desensibilisierungsaufgaben aufstellen, was noch möglich wäre. Ich hätte im Angebot:

- Nach der Zeit fragen, obwohl man offensichtlich eine Uhr trägt.
- Im Supermarkt oder in der Stadt auf der Straße Passanten grüßen
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Schauspiel im eigenen Wohnzimmer

Beitragvon Hans Mack » Mi 24. Dez 2008, 11:39

venosta hat geschrieben:
Hast Du hier schon Erfahrungen gesammelt? Welches sind Regeln, die man vereinbaren kann / sollte?


Ja - ich habe hier Erfahrungen gesammelt. Man kann um so etwas zu üben erst mal die Regeln aus dem normalen Schauspielunterricht nehmen, wenn man in einem geschützten Raum arbeitet, wie in der eigenen Wohnung. (Speziell die Regeln der sogenannten "Improvisationsübungen nach Stanislawski".)
Bei Anfängern werden normalerweise am besten zuerst etwa 30 Minuten die Grundlagen erklärt. Hier eine Kurzform:
Zuerst müssen die Grundregeln klar sein: Die Abmachung dass jeder dafür verantwortlich ist, das beim Spiel niemanden real etwas böses körperlich passiert und dass das Wort "Stop" sofort zum Abbruch bzw. "Standbild" der gespielten Szene führt.

Hier ein spielbarer Vorschlag:

Dann zuerst die Bühne benennen, das ist eine gemeinsame Abmachung. Ihr könnt dazu einfach ein freies Stück vom üblichen Wohnzimmer verwenden. Man könnte jetzt dort 4 Stühle aufstellen, um damit z. B. ein Stück eines U-Bahnabteils zu simulieren. Wir kennen so etwas ja schon aus der Kindheit...

Dann die Ausgangssituation der Szene verabreden (die W-Fragen)
Wo - spielt die Szene - der genaue Ort (sagen wir mal das ist jetzt eine U-Bahn, in ...Stadt).
Wann spielt die Szene -(z. B. Nachts um 11, Freitag)
Wer spielt die Szene (z. B. 2 Personen: ein Fahrgast und ein Fahrkartenkontrolleur/in)
Mit Was, Wie, Warum... geht’s weiter:
Die Vorgeschichte geht z.B. so: Spieler Nr1 kam gerade aus einer Kneipe, hatte dort vielleicht gerade Stress mit Freundin/Freund und ist außerdem vom Wein angedudelt (dies nur spielen und nicht wirklich in der Szene Wein trinken, Schauspiel wird normalerweise nüchtern gespielt, wegen der Klarheit der Sinne ;-)
Der Kontrolleur/in hat die letzte Kontrollfahrt vor Feierabend ...
Der Fahrgast hat keinen Fahrschein (wir brauchen meist einen Konflikt, damit es Spaß macht, für die Action)
Wenn diese Ausgangssituation soweit klar ist, begebt ihr euch an euren Spiel-Platz. Jeder weiß nun wer er ist und was er macht und wo er hin will und jeder stimmt sich 2 Minuten für sich auf die Szene mit seiner Imagination ein. Der Schwarzfahrer sitzt und der Kontrolleur steht und wartet bis die U-Bahn anfährt. Du siehst dann also in deiner Imagination die U-Bahn Fenster usw., hörst die üblichen Geräusche in der U-Bahn, spürst das anfahren (versuch es dir so gut es geht vorzustellen, wenn’s nicht gleich klappt, auch egal),

Dann geht die Szene los mit dem Satz "Die Fahrscheine bitte" ...
Alles weitere ist eurer Phantasie überlassen. Es gibt 1000 Möglichkeiten diese Szene zu dann frei weiter zu spielen. Nehmt das Spiel ernst! Spielt so, wie wenn euch das im ganz normalen Leben passieren würdet. Spielt die Szene so wie ihr wirklich reagieren würdet (was wäre wenn). Aber! ihr habt dazu zusätzlich jetzt hier die Freiheit das zu tun, was ihr euch in der realen Welt nicht trauen würdet, nutzt diese Freiheit der tausend Möglichkeiten! (Nur beide müssen sich streng an die obigen Grundregeln halten) Versucht erst danach zu lachen (Anfänger lachen oft beim ersten mal, macht nichts, versucht ein eventuelles Lachen möglichst in die Szene zu integrieren).
Falls etwas schief läuft, dann sagt "Stop", besprecht es und wiederholt es auf andere Art, verbessert Fehler... (es soll aber nicht zu oft unterbrochen werden)
Die Szene dauert z.B. 10 Minuten. Nehmt es am besten mit Videokamera auf. oder spielt vor Freunden.
Danach gibt es eine Nachbesprechung, wo jeder seine subjektiven Eindrücke schildert

Während ihr spielt oder ihr im "Stop Modus" an der Szene arbeitet, versteht ihr vielleicht jetzt schon, was mit Regieinstanz bzw. kollektiver Regie gemeint ist? Was ist hier der wesentliche Unterschied zur Realität? Wenn gut gespielt wird ist das nicht viel. (Der Raum natürlich, man könnte aber auch in der U-Bahn spielen, dann würde es aber gefährlich, wenn einer sich als Kontrolleur ausgibt, wäre aber möglich und das wäre dann „Unsichtbares Theater“)
Der wichtigste Unterschied zur Realität ist 1. das kollektive Wissen, das dies Spiel und nicht Ernst ist (das Spiel jedoch ernsthaft gespielt wird), also diese Abmachung und es ist 2. die Stop Regel und die Eingriffsmöglichkeit/Veränderbarkeit der Szene. Es gibt jetzt sozusagen einen Geist/Spirit/Wissen in euch, das die Realität die ihr gerade erschafft verändern kann, und diese (Spiel-)Realität konstruieren kann. Dieser Spirit wird von euch beiden und allen Leuten im Raum getragen, die ums Spiel wissen. (vergleichbar einem „Klartraum“) Die normale Realität hat keinen Rahmen, durch den man eingreifen kann, die Spielrealität schon. Das ist ja gerade der Reiz, den so eine Theaterarbeit auf jeden der einem Schauspielworkshop macht ausübt, der das seit der Kindheit wieder zum ersten mal macht.
Jeder muss lachen.

Ich weiß jetzt nicht ob das nur auf eine schriftliche Anleitung richtig gut klappt, wäre aber neugierig darauf. Falls es klappt bzw. Resonanz kommt, stell ich das Beispiel vielleicht per Link auf die Realtheater Homepage. Deshalb hab ich es relativ ausführlich geschrieben.
Im richtigen Schauspielunterricht wird alles was hier nötig ist natürlich eingeübt und trainiert, z. B. die Imaginationsfähigkeit, die wir auch besonders von der Kindheit her noch gut kennen

Das ist aber noch kein Realtheater! das ist Schauspiel. Realtheater ist es erst dann, wenn das Spiel zur Realität wird, sozusagen zum Feuer und nicht zum Flämmchen und wenn man also nicht ständig wieder in die eindimensionale Kausalität/Realität zurückfällt, sondern das Bühnenbewusstsein beibehält. Wenn man stets „möglichkeitsbewusst aktiv konstruiert und auswählt“ (in einer Übereinkunft, die diese Wahl ermöglicht) und nicht nur passiv in der „Kausalrinne des Lebens“ rutscht. Es geht also darum über seinen Schatten zu springen und jemand anderes zu sein, dies kann sogar normales Schauspiel z.B. während einer Improvisation schon bieten. Wer z.B. den U-Bahn Kontrolleur gut spielt, der hat ein echtes Erlebnis gemacht wie sich so ein Beruf anfühlt.

Wer will kann gleich im U-Bahn Szenario weiterspielen: Z. B. eine Szene mit jemanden, der sich in der U-Bahn eine Zigarette anzündet... oder dieselbe Szene nochmal mit vertauschten Rollen, oder die Szene nochmal mit einem Handycap z.B. ein lispeln...

Ich bin der Meinung dass der echte Realtheater Zustand vorerst nur in einem von der Außenwelt abgeschottetem Gelände/Raum erreichbar ist. Denn die Regeln des Realtheaters und die Regeln der normalen Außenwelt sind nicht kompatibel, sondern widersprechen sich.

Näheres zum Thema Schauspiel, Grundregeln etc. steht hier: http://www.radikaler-konstruktivismus.de/radikalerkonstruktivismus2.html.
Hans Mack
 
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